Was hat Sie an dem Projekt gereizt? Als ich 2005 das Exposé auf den Tisch bekam, bin ich über einen Nebensatz gestolpert: Hilde Domin sei 95 und Anna Ditges 26 Jahre alt. Da habe ich mich gefragt: Was reizt eine so junge Filmemacherin, einen Film über eine so alte Lyrikerin zu machen? Also habe ich Anna Ditges angerufen. Als ich erfuhr, dass sie seit fast zwei Jahren alleine und ohne Budget an dem Projekt arbeitete, bin ich erst recht neugierig geworden. Eine solche Hartnäckigkeit ist nicht die Regel. Beim Materialsichten habe ich dann schnell begriffen, dass dieser Kollegin etwas ganz Besonderes gelungen ist, dass ihre Hartnäckigkeit berechtigt war. Was war denn das Besondere? Die Dynamik zwischen den beiden Frauen, ihre Nähe und ihr Spannungsverhältnis. Immerhin waren sie sich auch ziemlich ähnlich, in der Eigenwilligkeit, der Zielstrebigkeit. Und sie hatten großes Vertrauen zueinander. Ich war verblüfft über die Offenheit der Domin. Selbst die Frage, ob ihr Mann ein guter Liebhaber gewesen sei, beantwortete die Alte der Jungen mit der allergrößten Selbstverständlichkeit. Andererseits stritten sie sich ständig. Und dabei lief immer die Kamera mit, als Dritte im Bunde sozusagen. Die Autorin hat ja, als Regisseurin, Kamera- und Tonfrau in Personalunion, in den schier unmöglichsten Situationen gefilmt. Zum Beispiel? Beim Autofahren: Anna Ditges hat die eine Hand am Lenkrad, die Kamera auf ihrem Schoß postiert, und während sie rasant bergab fährt, dreht sie ein sehr genaues Porträt von Hilde Domin auf dem Beifahrersitz. Dieses unorthodoxe und im positiven Sinne hemmungslose Vorgehen hat sehr direkte, sehr authentische Aufnahmen hervorgebracht. Beim Gang über den Friedhof etwa stützt die Autorin mit links die alte Dame, rechts hält sie die Kamera, und daraus entsteht eine einzige intensive Einstellung, im Original 30 Minuten lang: Hilde Domin findet das Grab ihres verstorbenen Mannes nicht, sie keucht den Hang hinauf, in dem zerfurchten Gesicht zeichnet sich ihre ganze Verzweiflung ab. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes bewegend, ja atemberaubend. Und was unterscheidet jetzt den fertigen Film von anderen Dokumentarfilmen? Es fehlen die üblichen glättenden Bilder. Anna Ditges hat einen sehr eigenwilligen Blick, eine ausgeprägte dramaturgische Intuition, und sie hat sich auf das beschränkt, worauf es ihr ankommt: die Domin. Da gibt es keine Ablenkung, keine harmonisierenden Zwischen-schnitte. Der Film ist gewissermaßen jenseits aller Regeln entstanden, ein ‚Dogmafilm ohne Dogma‘. Anna Ditges hat nie auch nur eine Lampe aufgebaut. Wenn Hilde Domin gegen die Kamera schlägt, bleibt auch das im Bild. Bei der Montage hat sie dann sehr gewissenhaft das weiter geführt, was sie mit ihrer spontanen, improvisierten Kameraarbeit begonnen hatte: die Reduzierung aufs Wesentliche, mit harten ‚jump cuts‘. So ist ein rauher, direkter und vor allem kompromissloser Film entstanden. Ein Film, der sensibel eine spannende Geschichte erzählt und sich um keine Konventionen schert. Eine Arbeit von einer jungen Autorin, vor der ich riesengroßen Respekt habe.